Almuths ethno-histo Blog

Dies ist Almuth Waldenbergers allererster Blog, den sie für das Tutorium zur Vorlesung "Geschichte der Kultur- und Sozialanthropologie" an der Universität Wien im Wintersemester 2005/06 eröffnet hat. Blogs Frauchen ist grundlos sehr stolz darauf und freut sich auf viele schöne Posts und Kommentare!

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Freitag, November 25, 2005

Essay: Malinowski und Radcliffe- Brown: Funktionalismus und Strukturfunktionalismus

Hier nun also endlich auch mein Essay, Herzblut, aus klammen Fingern gesogen...
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... jetzt sogar mit Gliederung! Welch Errungenschaft ;-)
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Die beiden schillernden Gründerfiguren von Funktionalismus und Strukturfunktionalismus heißen Borislaw Malinowski und Reginald Radcliffe-Brown. Sie beide verwandten sich gegen die Suche nach „den Ursprüngen“ als historische Erklärungen. Diese wurde bei ihnen ersetzt durch das „Eintauchen“ in die Details, wie sich indigene Handlungen im zeitgenössischen Horizont zeigen. Der Anthropologe sollte im Forschungsobjekt nach Verständnis und Erklärungen suchen. Die zentrale Forderung des Funktionalismus: kulturelle Einzelaspekte sollten, so die zentrale Forderung des Funktionalismus, immer in ihrem kulturspezifischen Kontext gesehen werden. [1]
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Theorie
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Malinowski wollte mit den „Argonauten“ unter anderem in die Kontroverse zwischen Evolutionisten und Diffusionisten eingreifen und eine Ergänzung zu ihrer Diskussion liefern, sich noch nicht unbedingt auf eine „Seite“ festlegen. Er konnte sich zu dieser Zeit laut Seipel durchaus noch mit beiden Schulen identifizieren, auch wenn er zugleich für einen neuen theoretischen Zugang plädierte. Später, als der von ihm gegründete Funktionalismus bereits als eigene Theorie Fuß gefasst hatte, musste er seine Position dann genauer definieren. [2]
In seinen Seminaren sprach er sich stark für das Arbeiten mit konkreten Problemstellungen aus. [3]
Radcliffe-Brown setzte sich ebenfalls mit den zeitgenössischen Hauptströmungen in der Anthropologie auseinander: Er meinte, der Diffusionismus sei nur eine mutmaßende Geschichtsschreibung, kein ernsthaftes Eingehen in eine Debatte über einzelne seiner Behauptungen. Das Gleiche warf er auch den evolutionistischen Mutmaßern vor. [4]
Radcliffe-Brown engagierte sich für eine einzige, vereinigte Sozialwissenschaft, die er verständlicherweise nicht in der Psychologie oder Ökonomie fand und die auch keine „Kulturwissenschaft“ (science of culture) im Boasianischen Sinne sein sollte. Er wollte eine „theoretical science of human society“, deren Methode der systematische Vergleich einer ausreichenden Anzahl von Gesellschaften ausreichend unterschiedlicher Typen sein sollte.
Einer solchen allgemeinen Sozialwissenschaft würde es auch gelingen, durch Vergleich die Naturgesetze von Gesellschaft (natural laws of society) zu entdecken. Gleichzeitig wandte er sich von historisierenden Ursprungssuchen ab – er wollte Fakten, und Fakten erlangte man am einfachsten über die Gegenwart, und mit Fakten arbeitete man am einfachsten, wenn man sie in einer Gesellschaft als lebende, interaktive Teile gruppierte. [5]
Radcliffe-Brown arbeitete zielgerichtet und systematisch, um eine Disziplin auf kohärenten Methoden, Daten und Theorie aufzubauen, während Malinowski in einem Fluss von stets wechselnden zwischendisziplinären Impulsen verharrte, auf globale Anliegen und das intellektuelle Leben reagierend (und dadurch auch populärer). Radcliffe-Brown bezeichnete seine Disziplin als „Vergleichende Soziologie“ (comparative sociology). [6]
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Methode
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Sowohl Radcliffe-Brown als auch Malinowski ließen sich von der Soziologie Emile Durkheims inspirieren. [7]
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Borislaw Malinowski
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Malinowskis Funktionalismus unterscheidet sich von der Soziologie Durkheims vor allem durch die Einbeziehung psychologischer Theorien (Pawlow, Wundt, Freud). [8]
In seinen Spätwerk „A Scientific Theory of Culture“ (1944) definiert Malinowski zunächst den Begriff Kultur: Kultur sei eine Ganzheit, deren Komponenten in wechselseitiger Beziehung zueinander und in Abhängigkeit voneinander stünden; sie sei ein integriertes System von Einstellungen, Handlungen und Gegenständen, die innerhalb des kulturellen Ganzen ‚zweckbestimmt’ seien.
Dann fasst er sieben biologische Grundbedürfnisse des Menschen und seine in allen Kulturen gleichen kulturellen Antworten darauf (cultural responses) zusammen und abstrahiert diese auf vier instrumentale Imperative (instrumental imperatives) mit ihren jeweiligen kulturellen Antworten (Ökonomie, soziale Kontrolle, Erziehung, politische Organisation). - Diese Ansätze fanden bei Malinowskis Zeitgenossen und Schülern so gut wie keinen Anklang. [9]
Insgesamt werden Malinowskis Theorie und seine Interpretationen der von ihm gesammelten Daten heute viel weniger anerkannt als seine Feldforschungspraxis, die durchwegs gelobt wird. [10]
Heute werden unter „Malinowskianischer Anthropologie“ zwei Dinge verstanden: Einerseits eine neue Feldforschungsmethode, andererseits Malinowskis Theorie über Kultur und kulturelle Universalien. Im Vergleich zu Radcliffe-Brown war Malinowski eindeutig der bessere Feldforscher, auf theoretischem Gebiet wichen seine Schüler allerdings teilweise auf Radcliffe-Brown aus. [11]
Malinowskis „Funktionalismus“ bedeutete, dass alle Teile einer lokalen Kultur eine Rolle im Funktionieren aller anderen Teile dieser Kultur spielen. Jede lokale Kultur ist ein integrierter, komplexer Mechanismus, wobei der Mensch als Organismus sich an die physische und gemeinsame Umwelt anpasst.
Malinowskis Funktionskonzept war enger mit einer Vorstellung von menschlichen Bedürfnissen verbunden und seine Darstellung orientierte sich stärker an den Themen, die die europäischen Intellektuellen seiner Zeit beschäftigten, besonders die Schriften von Sigmund Freud. Nicht nur dadurch war er um einiges populärer als Radcliffe-Brown: Malinowskis publizistisches Werk besticht und bestach außerdem durch seinen lebendigen und fesselnden Schreibstil, durch den Wechsel von Außen- und Innensicht und die lebendige Darstellung der Verknüpfung von profanen Handlungen und magischen Riten. [12]
Unumstritten ist Malinowskis Leistung für die anthropologische Methode: Er perfektionierte (nicht erfand) eine neue Form der Arbeit im Feld, für die zuerst Rivers eingetreten war. Die Feldforschung wurde zum grundlegenden Leitgedanken aller nachfolgenden Generationen der britischen Anthropologie.
Malinowskis Innovation dabei war die Synthese von verschiedenen Komponenten dieser Methode, die schon zuvor erfunden worden waren. In den „Argonauten“ widmet er das erste Kapitel einer Vorstellung seiner Sichtweise, den Rest des Buches kann man als Demonstration der Nützlichkeit seiner Praktiken ansehen. Viele Bestandteile seiner Methode gewann er aus den Erkenntnissen der Torres-Straits-Expedition: Vorrangig war ihm der lokale Kontext, die Bestandsaufnahme musste vollständig für alle Aspekte des lokalen Lebens sein. Mit der genealogischen Methode sollte man soziale Beziehungen ergründen, die gleiche Exaktheit verlangte er aber auch bei der statistischen Aufnahme von Konkreta: Zusammensetzung von Haushalten und Dorf, Landrechte, Austausch und Abgaben, rituelle, technische und ökonomische Aktivitäten, etc.
Neben den wichtigen Primärdaten, die man durch Einhaltung solcher Vorgaben erlangen kann, ist es vor allem die persönliche Beziehung zu den Menschen der erforschten Gesellschaft, die man im Laufe der Forschung aufbaut und die sich von selbst verstärkt. Dies ist die Essenz von Malinowskis Feldarbeit: die Teilnahme am indigenen Leben. Man erlernt eine neue Sicht auf die Forschungsobjekte, man bekommt eine neue Art von Wissen über sie. Eine sehr wichtige Forderung ist in diesem Zusammenhang, dass der Forscher in jedem Fall die Sprache seiner Untersuchungsobjekte beherrschen muss.
Malinowski selbst entsprach von seinen persönlichen Eignungen her der von ihm geforderten Forschungsweise, doch nur wenige andere dürften dazu im selben Maße fähig sein. [13]
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Reginald Radcliffe-Brown
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Radcliffe-Brown nutzte das Konzept der Funktion als Mittel, den Rahmen anthropologischer Analyse von Ursprungs- und historischen Fragen zu verschieben zu Fragen der Struktur und der gegenseitigen Verbindung. Er war theoretischer und kam in seiner Analyse auf ein höheres Abstraktionsniveau als Malinowski.
Bei seiner Feldforschung (1908-1909) auf dem den Andaman-Inseln ging er noch vom evolutionistischen Ursprungsgedanken aus, weil sich die Urbevölkerung als Jäger-und-Sammler-Gesellschaft noch auf einem sehr einfachen, also „alten“ Level menschlicher Kultur befand. Radcliffe-Brown erfüllt auf seiner Feldarbeit nur sehr wenige der Anforderungen, die Malinowski in den „Argonauten“ aufstellen würde.
Als er 1910 eine Vorlesungsreihe vorbereitete, begann er, sich mit soziologischen Ansätzen auseinanderzusetzen und überdachte im Folgenden seine evolutionistische Anthropologie.
1952 publizierte er „Structure and Function in Primitive Society“, eine Essaysammlung, in der er seinen Standpunkt entwickelte und verbreitete und so jene Prämissen etablierte, nach denen die nächste Generation britischer Anthropologen arbeiten würde. [14]
Barnard gibt eine sehr bildliche Darstellung von der Durkheim-Radcliffe-Brown’schen, also frühfunktionalistischen, Vorstellung von Gesellschaft: wie in der evolutionistischen Vorstellung funktioniert Gesellschaft so reibungslos wie ein gesunder Organismus, bestehend aus vielen Teilen, die in größere Systeme zusammengefasst sind. Soziale Institutionen funktionieren wie Körperteile zusammen in größeren Systemen. Die sozialen Systeme wie Verwandtschaft, Religion, Politik und Ökonomie bilden zusammen die Gesellschaft, genauso wie verschiedene biologische Systeme zusammen einen Organismus bilden. An diesem Modell kann man kritisieren, dass soziale Institutionen kaum je nur Teil eines Systems innerhalb einer Gesellschaft sind oder nur für ein System eine Funktion haben: „Heirat“ in der westlichen Gesellschaft zum Beispiel ist nicht nur eine Institution des Systems „Verwandtschaft“, sondern hat ebenso, oder noch stärker, religiöse, politische und ökonomische Aspekte – sie funktioniert in anderen Systemen also auch. Es ist also quasi alles „funktional“, was die Analogie problematisch macht. [15]
„Kultur“ (hier im Sinne von Gesellschaft) war für Radcliffe-Brown nicht eine konkrete Realität, sondern eine Abstraktion. Immer, wenn verschiedene „Kulturen“ in diesem Sine zusammentreffen, interagieren nicht diese selbst, wie man geneigt wäre zu denken, sondern die einzelnen Individuen und (Interessens-)Gruppen, aus denen sie bestehen. [16]
So partikularistisch bleibt Radcliffe-Brown allerdings nicht, wenn er nun die strukturelle Form (structural form) einführt: Zur strukturellen Form eines Phänomens dringt man mittels Verallgemeinerung vor. Indem man einzelne Beispiele von individuellem menschlichem Handeln in einem System dokumentiert, muss es möglich sein, die Struktur, die den Hintergrund für dieses individuelle Handeln bildet, aufzudecken und zu definieren. Das „typische“ Rollenverhalten etwa eines Chiefs und seiner Untergebenen kann so verstanden und in die strukturelle Form eingebaut werden. In einem späteren Stadium der Analyse kann der Anthropologe die strukturelle Form von einer Gesellschaft mit der einer anderen vergleichen und vielleicht sogar zu den allgemeinen Gesetzen für das Funktionieren von Gesellschaften allgemein kommen.
Dieses Denkmodell wurde auf zwei Ebenen kritisiert: Erstens sorgte Radcliffe-Brown für begriffliche Verwirrung, weil er mit „struktureller Form“ das meint, was normalerweise als „Sozialstruktur“ bezeichnet wird, und mit „Sozialstruktur“ das, was sonst nur „Daten“ genannt wird. Zweitens versuchte er, von beliebigen Beispielen auf allgemeine, universelle Gesetze zu schließen, ohne logische Prämissen. [17]
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Resümee
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Heute bezeichnet sich niemand mehr als Funktionalist oder Strukturfunktionalist, doch die Bedeutung dieser Richtungen für die moderne Anthropologie kann, vor allem wegen den methodischen Neuerungen durch Malinowski, trotzdem nicht hoch genug eingeschätzt werden.




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Verwendete Literatur:

Barnard, Alan: History and theory in anthropology, Cambridge 2000

Barth, Frederic: Britain and the Commenwealth. In: Barth, Frederic; Gingrich, Andre; Parkin, Robert; Silverman, Sydel: One Discipline, Four Ways: British, German, Frensh, and American Anthropology. The Halle Lectures. Chicago: University of Chicago Press. 2005, S. 3-60

Seipel, Jerg: Borislaw Kaspar Malinowski. In: Feest, Christian F./Kohl, Karl-Heinz (Hg.): Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart 2001, S. 278-283

Ramaswamy, Mohan Krischke: Ethnologie für Anfänger: Eine Einführung aus entwicklungstechnischer Sicht, Wiesbaden 1985



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Endnoten:

[1] Vgl. Barth S. 22 und Ramaswamy S. 61

[2] Vgl. Seipel S. 280

[3] Vgl. Barth S. 28

[4] Vgl. Barth S. 17

[5] Vgl. Barnard S. 70 f.

[6] Vgl. Barth S. 29 und Barnard S. 62

[7] Vgl. Barth S. 61

[8] Vgl. Ramaswamy S. 62

[9] Vgl. Barnard S. 68 und Ramaswamy S. 61

[10] Vgl. Barnard S. 69

[11] Vgl. Barnard S. 66

[12] Vgl. Barth S. 22, 25 und Seipel S. 281

[13] Vgl. Barth S. 18, 20

[14] Vgl. Barth S. 23-24

[15] Vgl. Barnard S. 62-63

[16] Vgl. Barth S. 30

[17] Vgl. Barnard S. 72

1 Comments:

Blogger Unknown said...

Schade nur, dass Du den Namen von Malinowski ständig verwechselt hast. Er heißt nämlich Bronisław und nicht Borislav...

1:56 PM  

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